Kevin
Aymoz - „Auf dem Eis fühle ich mich zu Hause"
von
Judith Dombrowski
Kevin
Aymoz aus Frankreich ist so ein Läufer, der in seinen Programmen
viel von sich selbst zeigt. Emotional, kraftvoll, aber auch mit einer
sehr zerbrechlichen Seite. All diese Seiten kamen während dieses
sehr persönlichen
Gesprächs zum Vorschein, das wir mit Kevin nach seiner Kür beim
Golden Spin in Zagreb führten, wo er den 7. Gesamtrang belegte. Wir
sprachen über die vergangenen Jahre mit all ihren Höhen
und Tiefen, seine olympischen Ziele und inspirierenden Erinnerungen
und über seine Träume abseits des Eises.
Kevin,
vielen Dank, dass Sie sich nach Ihrem Wettkampf die Zeit genommen
haben. Das Kurzprogramm verlief nicht wie geplant, aber in der Kür
haben
Sie heute einen großen Kampfgeist gezeigt. Wie geht es Ihnen?
Kevin:
Es geht mir gut. Leider habe ich mir im Sommer eine Verletzung
zugezogen, so dass ich von Juni bis August nicht laufen konnte. Davor
war ich im Urlaub, es war also eine wirklich lange Zeit ohne
Training. Ich hatte nur sehr wenig Zeit um mich in die Programme
einzuarbeiten und keine Zeit, an ganz neuen Dingen zu arbeiten.
Darüber war ich wirklich traurig, denn ich habe wirklich Spaß
daran, neue Bewegungen und Figuren zu entwickeln, aber mein Körper
hat nicht mitgespielt. Deshalb entschied ich mich, zu meinem alten
Kurzprogramm aus der Saison 19/20 zurückzukehren. Aber selbst für
dieses Programm war ich noch nicht bereit und bin es immer noch nicht
wirklich. Wir mussten viele kleine Dinge und Details herausnehmen,
worüber ich sehr traurig bin.
Es
ist also eine schwierige Zeit, aber ich bereite mich weiter vor. Mein
Ziel ist die zweite Saisonhälfte, daher hatte ich für die erste
keine großen Erwartungen. Es ist nicht so, dass mir die Resultate
egal wären, aber ich habe die Wettkämpfe eher als gutes Training
gesehen, um wieder in die Spur zu kommen.
Die
bevorstehenden Olympischen Spiele sind Ihre ersten. Mit welchen
Zielen gehen Sie in diesen wichtigen Wettkampf?
Kevin:
Ich möchte
diese Spiele als ein echtes Spiel betrachten. Ich möchte
sie spielen. Und ich möchte
jede Sekunde davon genießen. Ich erinnere mich, als ich noch sehr
jung war, etwa 10 Jahre alt, da habe ich die Spiele im Fernsehen
gesehen und wollte unbedingt dabei sein. Genau dort sein, im
Fernsehen!
Und
jetzt sitzt mir der junge Kevin auf der Schulter und sagt mir: Du
darfst nicht aufgeben. Auch wenn du verletzt bist, musst du hingehen,
du musst kämpfen. Und danach kann ich in den Urlaub fahren.
Wenn
Sie auf die vergangenen Olympischen Spiele zurückblicken, welche
Momente waren für Sie am inspirierendsten?
Kevin:
Meine ersten Erinnerungen an die Olympischen Spiele sind die Spiele
in Turin. Ich war ein sehr junger Eiskunstläufer in Grenoble, und
viele Läuferinnen und Läufer kamen in unsere Eishalle, um dort zu
trainieren und sich auf die Spiele vorzubereiten, da wir ganz in der
Nähe von Italien waren. Aber ich war damals noch zu jung, um zu
verstehen, dass die Olympischen Spiele eine wirklich große Sache
sind. Ein paar Wochen später sah ich dann diese Leute, die mit mir
trainiert hatten, im Fernsehen und dachte: Wow, das ist so cool.
Das
kann ich mir vorstellen. Welche Läufer waren das?
Kevin:
Mao Asada war auf jeden Fall dabei und ich glaube, es war auch Brian
(Joubert).
Meine
nächste Erinnerung ist dann natürlich Vancouver. Ich weiß noch,
dass ich nachts um 3 Uhr aufgestanden bin, um es anzuschauen, aber
ich erinnere mich nicht mehr an allzu viel, außer an Yuna Kim. Sie
war unglaublich. Sie ist eine meiner absoluten Lieblingsläuferinnen.
Und
nach Vancouver kam Sochi, und ich dachte: In vier Jahren bin ich in
dem Alter, dass ich selbst laufen kann! Ich haben den ganzen
Wettbewerb mit Spannung verfolgt und wusste, dass ich genau dort sein
wollte.
Dann
kam Pyeongchang. Im Jahr zuvor, 2017, bin ich französischer Meister
geworden. Ich wusste um meine Chance und war gestresst. Zu gestresst!
Und ich habe es nicht ins Team geschafft. Ich war innerlich so
wütend. Aber ich sagte mir: Kevin, weißt du was? Du musst hart
arbeiten und dir deinen eigenen Platz für 2022 sichern und dann
wirst du zu den Olympischen Spielen fahren.
Genau
das habe ich dann auch getan, und habe in Stockholm (die Option auf)
zwei Plätze für mein Land geholt, und darauf bin ich sehr stolz.
Ich habe mir selbst „High five“ gegeben, ich habe mir meine
eigene Tür geöffnet.
Wenn
Sie an den letzten olympischen Zyklus denken, nachdem Sie sich 2018
leider nicht qualifizieren konnten, in diesen vier Jahren hat sich in
Ihrem Leben viel verändert, oder?
Kevin:
Ja, ich habe mich in diesen vier Jahren sehr geöffnet.
Ich würde sagen, ich bin aufgeblüht wie eine Blume.
Als
ich vor vier Jahren in mein Trainingslager in Florida fuhr, war ich
ein schüchterner, introvertierter Mensch. Verloren in meinem eigenen
Leben. Ich hatte keine Ahnung, wohin es mit meinem
Eiskunstlaufkarriere gehen sollte. Ich bin gelaufen, weil es mir Spaß
gemacht hat, aber ich hatte keine wirklichen Ziele. Auch hatte ich
kein richtiges Zuhause, da ich ständig zwischen den USA und
Frankreich hin- und herreiste.
Meine
Trainerin Silvia (Fontana)
hat mir sehr geholfen. Ich würde sogar sagen, dass sie mich viele
Male gerettet hat. Auch als ich mein Coming-out hatte, war sie für
mich da. Sie war eine der ersten Personen, mit denen ich darüber
sprach. Selbst in ihren eigenen schweren Zeiten war sie für mich da.
Sie kümmert sich wirklich um die Menschen, die ihr nahe stehen.
Was
das Eiskunstlaufen angeht, hat sie mich in kürzester Zeit wieder auf
den richtigen Weg gebracht. Auf den Weg, von dem aus ich mir die Welt
öffnen
konnte.
Das
Training hat
plötzlich
so viel Spaß gemacht. Ich habe mich auf dem Eis selbst entdeckt.
Damals fing es auch an, dass ich meine eigenen choreographischen
Elemente entwickelt habe. Ich würde also sagen, die letzten vier
Jahre waren gut, abgesehen von den Europameisterschaften 2020, wo ich
ein katastrophales Kurzprogramm hatte und die Qualifikation für die
Kür nicht schaffte, und dann natürlich das, was danach mit der Welt
passiert ist.
Die
Pandemie.
Kevin:
Ja, es hat
sich angefühlt, als würde die ganze Welt auf dem „Highway to
Hell“ untergehen.
Ich
dachte: Nein, das ist wirklich nicht das, was passieren sollte. Ich
saß 18 Monate lang in Frankreich fest. Und es war nicht schön,
dort festzusitzen, obwohl Frankreich meine Heimat ist. Ich habe dort
meine Familie, meinen Freund und meine besten Freunde. Es war
natürlich schön,
mehr Zeit mit ihnen zu verbringen, aber ich habe Florida sehr
vermisst.
Ich
hatte das Gefühl, dass dies der Ort ist, wo ich Eislaufen sollte.
Und es ist einfach meine erste Priorität,
auf dem Eis zu stehen. Auf dem Eis fühle ich mich am besten. Wenn
man mich fragt, wo ich mich am wohlsten fühle, würde ich kein Land
nennen, kein bestimmtes Haus oder würde auch nicht sagen bei meiner
Familie. Mein Herz ist auf dem Eis. Es ist mein Zuhause. Wenn ich
mich während der Wettkämpfe gestresst fühle, denke ich: Genieße
den Moment, denn du bist hier, zu Hause, dort wo du dich am wohlsten
fühlst. Der Eiskunstlauf hat mir einfach bei so vielem geholfen.
So
habe ich während Covid in Frankreich alleine trainiert und ein
Kurzprogramm entwickelt. Mit ethnischer Musik. Und dann kam raus,
dass es sehr umstritten war. Dabei wollte ich mich nie über jemanden
lustig machen. Als ich die Musik zum ersten Mal hörte,
dachte ich: Wow, das ist so ein gutes Stück, um darauf zu laufen.
Die Zuschauer werden es lieben! Ich war wirklich stolz. Es war das
erste Programm, das ich komplett selbst choreografiert habe, und ich
war sehr zuversichtlich. Aber nach der Resonanz, die ich bekommen
habe, bin ich nicht mehr zuversichtlich. Ich habe Angst vor jeder
Programmveröffentlichung.
Was wird in den sozialen Medien passieren? Und ich habe generell
Angst: Was kann ich sagen? Was kann ich posten? Was kann ich tun, um
bloß niemanden zu beleidigen?
Im
Moment habe ich schon meine Musik für die nächste Saison, aber ich
bin mir nicht sicher, ob ich wirklich darauf laufen kann. Was, wenn
sie jemandem nicht gefällt? Dann wird er etwas Gemeines darüber
sagen, und das wird mich verletzen. Aus diesem Grund habe ich vor,
meine sozialen Medien bald zu schließen. Nicht komplett, aber ich
möchte
einschränken, was Leute, die mich nicht persönlich
kennen, sagen können.
Sie kennen mich nicht, sie kennen meine Trainer nicht, sie kennen die
wahren Geschichten nicht.
Alles
in allem kann ich wohl sagen, dass es vier Jahre lang eine
Achterbahnfahrt war.
Für
diese Saison aber habe ich mir gesagt, dass dies meine Saison sein
wird. Es ist mir gerade deshalb so wichtig, wieder zu 100 Prozent
Leistungsfähigkeit zurückzukommen.
Sie
haben bereits gesagt, dass Sie neue Musikideen für die nächste
Saison haben, das bedeutet wohl, dass Sie nach den Olympischen
Spielen Ihre Karriere fortsetzen wollen?
Kevin:
Ja, aber ich kann nicht sagen, für wie lange. Im Moment macht es mir
wirklich zu viel Spaß, also möchte
ich weitermachen. Ich weiß, dass ich noch nicht fertig bin. Ich habe
noch neue Dinge zu zeigen. Aber ich werde nichts forcieren. Wenn ich
das Gefühl habe, dass es an der Zeit ist, aufzuhören, werde ich
nicht weitermachen, nur um dann auf dem absteigenden Ast zu sein. Ich
möchte
immer genießen, was ich tue. Ich weiß also nicht, ob ich 2026 in
Mailand dabei sein werde, aber ich mache mich auf den Weg dorthin.
Sie
kreieren immer sehr moderne und außergewöhnliche
Programme. Ihre neue Kür in dieser Saison ist zu dem Song „Outro“
von M83. Können Sie ein wenig über dieses Programm erzählen?
Kevin:
Ich habe schon vor langer Zeit versucht, zu diesem Song zu laufen.
Damals hat es aber nicht funktioniert. Aber diesen Sommer fühlte ich
mich bereit: Ich fühle diese Musik wirklich, und ich wollte
unbedingt darauf laufen. Es gibt eine Geschichte hinter dem Programm.
Mein Choreograf hat mich gebeten, eine Geschichte aufzuschreiben, die
ich zu dieser Musik im Kopf habe. Dafür habe ich etwa eine Woche
gebraucht. Zuerst habe ich mich wie ein Autor ohne Inspiration
gefühlt. Ich saß in
Cafés
und an anderen schönen
Orten und versuchte, die Geschichte des Programms zu schreiben. Aber
dann habe ich gemerkt, dass ich nicht nach einer Geschichte suchen
muss, die Geschichte ist in mir selbst. Ich habe auch viel mit dem
Text des Liedes gearbeitet, um diese sehr persönliche
Geschichte zu schreiben. Eines Tages werde ich sie wohl
veröffentlichen,
aber noch fühle ich mich nicht dazu bereit.
Lassen
Sie uns das Gespräch auf der persönlichen Ebene beenden: In Ihrer
ISU-Biografie führen Sie zwei sehr erstaunliche Hobbys auf: Kaffee
trinken und träumen. Wovon träumen Sie denn und wie trinken Sie
Ihren
Kaffee?
Kevin:
Ich mag jeden Kaffee, aber es muss echter Kaffee aus Kaffeebohnen
sein. Ich liebe es, mit einer guten Tasse Kaffee draußen zu sitzen.
Zum Beispiel im Herbst, wenn es draußen noch warm ist und die
Blätter fallen.
Und
ich liebe es zu träumen, denn die Realität, in der wir leben, ist
oft nicht so schön,
deshalb sind Träume wichtig. Ich liebe es, von glücklichen Zeiten
zu träumen.
Ich
hoffe, dass bald viele glücklichen Zeiten auf Sie zukommen. Gibt es
noch etwas, was Sie gerne in Ihrer Freizeit machen?
Kevin:
Ich höre
sehr viel Musik. Ich liebe Musik einfach. Ich bin ein großer Fan von
Dua Lipa. Das ist ein weiterer Traum von mir: Auf ihr Konzert zu
gehen und sie eventuell sogar treffen. Sie kommt sogar zu einem
Konzert nach Frankreich, aber es ist ausverkauft, also bezweifle ich,
dass ich hingehen kann.
Ich
lese auch sehr gerne Bücher, ich liebe zum Beispiel den Autor
Philippe
Besson.
Er ist auch schwul und viele seiner Bücher sind wie sein Leben: Ein
bisschen anders.
Und
ich verbringe natürlich gerne Zeit mit meinen Freunden. Wann immer
ich Zeit habe, versuche ich, alle zu sehen. Wenn ich zum Beispiel
fünf Tage zu Hause bin, treffe ich mich jeden Abend mit jemandem.
Und
ich reise sehr gerne mit meinem Freund. Wir haben so viele Reisen
geplant. Aber im Moment habe ich natürlich oft nicht die Zeit dafür.
Es ist immer schwer für uns beide, wenn ich zurück nach Florida
fahre. Aber ich sage ihm: Eiskunstlauf ist meine Priorität und du
bist auch meine Priorität. Aber im Moment muss ich auf dem Eis
wirklich hart arbeiten, um für unser gemeinsames Leben in der
Zukunft sorgen. Aber ich vermisse ihn sehr, wenn ich weg bin, und ich
freue mich immer sehr, ihn zu sehen, wenn ich nach Frankreich
zurückkomme.
Vielen
Dank für das nette Gespräch, Kevin. Wir hoffen, dass Sie bald
wieder komplett fit sind, wünschen ganz viel Erfolg bei den
Olympischen Spielen und hoffen, dass Sie all ihre Träume
verwirklichen können.